Gotthard by del Buono Zora

Gotthard by del Buono Zora

Autor:del Buono, Zora [del Buono, Zora]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406681851
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-07-19T16:00:00+00:00


Thomas Oberholzer, 10:15

Cottbus. Er wollte nicht nach Cottbus zurück. Hier bleiben konnte er aber auch nicht. Vorhin, als der Alarm angegangen war und Tonino wie ein Irrer ins Funkgerät gebrüllt hatte – Oberholzer hielt Tonino sowieso für einen Irren, einen liebenswürdigen zwar, aber dieses ganze Mussolini-Geschwätz konnte einem schon auf die Nerven gehen –, waren ihm einen Moment lang die Knie weich geworden, er hatte sich hinsetzen müssen, er war ja schon den ganzen Morgen über so kopflos von einem Ort zum nächsten geirrt, hatte in seinem Zimmer in der Schlafbaracke einen löslichen Kaffee aufgebrüht und ihn dann doch nicht getrunken, war zur Kantine gegangen, um dort ein Croissant zu essen, das nicht schmeckte, weil zu trocken, hatte bei der Restbetonanlage gestanden und mit geschlossenen Augen den Geruch des ausgewaschenen Kieses eingeatmet, hatte dabei zusehen müssen, wie die einst so mächtige Tunnelbohrmaschine zu Schrott zerlegt abtransportiert wurde, ein richtiggehendes TBM-Drama für ihn; wieder ging eine Baustelle zu Ende, wieder war die Zeit, wo er tief im Berg drin sein konnte, vorbei. Er war gerne Mineur. Damals, als Stift im VEB Braunkohlenkombinat Senftenberg, wäre es ihm unvorstellbar gewesen, dass er eines Tages in der Schweiz arbeiten würde. In der Schweiz! Er hatte nicht einmal gewusst, dass Schweizerdeutsch eine eigene Sprache war, geschweige denn, dass man in dem Land auch Italienisch redete. Er kannte nur das Erzgebirge. Und das Schwarze Meer. Zwei frustrierende Wochen hatte er als Jugendlicher in einem FDJ-Ferienlager am Strand von Slantschew Brjag verbracht, hatte gegen eine kommunistische Jugendgruppe aus Hannover Fußball gespielt, deren Anführer lautstark die Platzaufteilung erklärte, die Deutschen nach links, die aus der DDR nach rechts, darüber hinaus hatte er in dem Tag für Tag stärker werdenden Bewusstsein gelebt, dass er die falsche Währung in seiner Geldbörse trug; die Bulgaren waren scharf auf die D-Mark, nicht auf die Mark. Die Bulgarinnen erst recht.

Aber kommunistische Bundis und sechzehnjährige Bulgarinnen mit himmelblauem Lidschatten waren heute nicht sein Problem. Sein Problem war seine Frau. Oder vielleicht auch er selbst. Sie harmonierten einfach nicht mehr, dachte Oberholzer und klopfte die Kopfkissen aus. Er setzte sich auf sein Bett und blickte aus dem Fenster auf die nächste Baracke, hölzern, dunkel, vertraut. Manchmal wusste er mit seiner freien Zeit nichts anzufangen. Meist las er. Er las viel, Entdecker-Biografien am liebsten, historische Technikromane, etwas über das Weltall; vermutlich war er der Einzige hier, der Bücher im Zimmer liegen hatte. Manche kaufte er, die meisten brachte er aus der Leihbücherei in Cottbus mit. Vier Wochen Ausleihe, dann noch einmal zwei Wochen Verlängerung. Seine Frau erledigte das mit der Verlängerung für ihn. Spätestens alle drei Wochen fuhr er nach Hause, manchmal alle zehn Tage, daher klappte das mit den Büchern. Verspätungszuschlag hatte er noch nie bezahlen müssen.

Heute war ihm nicht nach Lesen zumute, aber er konnte es zumindest versuchen. Er legte sich aufs Bett und schlug das Buch beim Kapitel über das Sternbild Orion auf. Das Universum faszinierte ihn, diese unfassbare Dimension, die die Tiefe, in der er sich im Berg bewegte, geradezu lächerlich erscheinen ließ.



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